365 Tage Sylt – Die besten Momente (5)

Was kein Mensch für möglich hält – Hans Jessel fotografiert auch gerne Menschen. Allerdings nur solange, wie diese nichts davon mit bekommen. Hans Jessel interessiert nämlich stets das Echte, das Unverstellte – egal ob unberührte Landschaft (ist eigentlich gegessen, gibt’s ohnehin nicht mehr) oder eben derjenigen, die der Landschaft ihre Unberührtheit so erfolgreich genommen haben.

Wie läuft diese Art von Fotografie ab, wollt Ihr sicher wissen!? Also: Hans Jessel bummelt an einem dunklen Novembertag (der 18. warˋs, glaubt er) am Strand entlang und sucht nach einem Motiv, das den Haupt-Gegenstand seines Interesses (also die Natur) in einer möglichst nicht alltäglichen, aber trotzdem unverstellten Art zu zeigen vermag. Hans Jessel scannt, so nennt man das heute, seine unmittelbare Umgebung, was sich erheblich lockerer anhört als es getan ist. Große Konzentration ist nämlich vonnöten, denn das Motiv kann sich überall verstecken – und es ist der größte Fehler des Unvermögenden, sich auf EIN Motiv zu versteifen… und damit den frechen Versteckspiel-Motiven ganz einfach auf den Leim gehen. DAS passiert Hans Jessel nicht mehr…! 😉 Dieser betrachtet an diesem dunstigen Novembertag mit dem rechten Auge das träge herum plätschernde Meeresdrama, während er im linkesten Winkel seines linken Augenkreises einen athletisch anmutenden Jogger samt Teppichratte, äh Hund, an den Strand herunter galoppieren sieht, der noch im Laufen mit einer Hand in seine Laufjacken-Brusttasche greift. Hans Jessel versteinert nur für den Bruchteil einer Sekunde. Schon hat er einen Röntgen-Scanstrahl auf den Jogger los geschickt, und, noch bevor dieser überhaupt sein Ziel erreicht hat, erkannt, dass er zu weit (ca. 70m) von diesem Objekt seines nun komplett überhand nehmenden Interesses entfernt steht, um ein formatfüllendes Blog-Foto zu erstellen. Nun passiert etwas, was dem kritischen Blog-Leser etwas spooky erscheinen mag, sich aber im Leben Eures urplötzlich zum Streetfotografen mutierten Landschaftsbloggers immer wieder mal in dieser oder ähnlicher Form abspielt: Der Röntgen-Scanstrahl nämlich ist mittlerweile an seinem Ziel, der Brusttasche des athletischen Joggers, angekommen – und hat die Information geliefert, dass dieser dabei ist, sein Smartphone aus derselben hervor zu pulen. Im diesem selben Moment passiert das Unfassbare: Hans Jessel löst seine Konturen auf (aber echt jetzt), er verschwindet sozusagen aus dieser diesigen Strandszenerie, genauso – oder zumindest ähnlich – wie wir es aus diversen Folgen von „Raumschiff Enterprise“ erinnern, sobald der legendäre Ruf „Scotty, beam me up“ erscholl. Hans Jessel befindet sich nun in einem Paralleluniversum, in dem niemand nervt, herrlich! Selbst die Teppichratte schnallt nix. Währenddessen entwickeln sich die von Eurem Blogger längst prognostizierten Vorgänge in die gewünschte Richtung: Nur die Teppichratte und Hans Jessel wissen in diesem Moment, was kommt. Der athletische Jogger nämlich richtet die Kamera seines Smartphones nicht etwa auf den Strand,  auch nicht auf die weiterhin träge herum plätschernde Meeresdramatik, und auch nicht auf sie, die Teppichratte – nein, er richtet diese auf sich selbst.

Im Paralleluniversum hat Hans Jessel mittlerweile das Objektiv gewechselt, gleichzeitig den Abstand zu dem athletischen Jogger auf 15 Meter verkürzt, schließlich die Blende verkleinert, die Belichtungszeit korrigiert und die Entfernung geschätzt. Der Blick von Hans Jessel gleicht nun dem eines Orcas, der eine saftige Ringelrobbe jenseits des Flutsaumes erspäht hat, und nun eruiert, wie er diese in seinen gierigen Rachen inhalieren könnte.

Die Teppichratte ist genervt. Sie kennt das schon: Ihr Herrchen, dieser Athletik-Beau, fotografiert nämlich nahezu ausschließlich sich selbst. In diiieeesem Moment legt der athletische Jogger sein Supermann-Lächeln auf, strafft seinen athletisch wohlgeformten Körper zu einem wahren Orgienbildnis an Kraft und Virilität, so dass selbst die träge herum plätschernde  Meeresdramatik für den  allerwinzigsten Bruchteil einer Sekunde die Luft anzuhalten scheint… da macht es *klick* in einem fernen, keiner sonstigen Menschenseele zugängigen Parallel-Universum – und Hans Jessel erscheint wie aus dem Sand geboren im Hier und Jetzt des diesigen Strandes, steckt seine Kamera wie nach getaner Arbeit in seine Tasche zurück und verlässt, nicht ohne ein Schmunzeln im Gesicht, den Ort des nunmehr geschehenen Geschehens. Das Gesicht der Teppichratte hättet Ihr sehen sollen!

Kommentar (1)

  1. Moin Hans,

    soo spannend geschrieben! Danke! Das habe ich jetzt bei meinem Weihnachtsfrühstücks-Guten-Morgen-Kaffee gelesen.

    Danke!

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