Foto: Meine Badestelle heute gegen 17 Uhr
… hat kein Geringerer als Star-Regisseur (und Top-Fotograf!) Wim Wenders mir unauslöschbar ins Gedächtnis geschrieben: „Die nichtgemachten Fotos sind die schönsten“, sagte er. Und fügte hinzu:“… aber diese nichtgemachten Bilder machen manchmal ein gut gemachtes Foto erst möglich.“
Wie wahr! Lassen sie doch eine Bildidee entstehen… und wachsen, für deren Umsetzung irgendwann der geeignete Moment kommen wird:
Heute früh, 6:05 Uhr. Ich trete kurz vor die Haustür, um „die Atmosphärilien zu checken“, wie ich es gerne nenne. Und wähne mich augenblicklich in einem Glashaus – so windstill ist es. Geradezu übernatürlich windstill. Und erstaunlich mild. Die noch nachtgraublaue Außenwelt sah, von drinnen betrachtet, deutlich kühler aus.
Ich steige in meine kurze Strandhose, ziehe den Frottee-Pullover über, schlüpfe in die Sandalen… und los geht’s Richtung Strand. An der Ecke zur Friesischen Straße bleibe ich nochmal stehen, und überlege, ob ich meine Kamera vielleicht doch mitnehmen sollte – angesichts der ungewöhnlichen Witterung. Aber ein kurzer Blick in den einfach übermäßig grauen und zu 100 Prozent bedeckten Himmel bringt mich schnell von diesem Gedanken ab.
Wie nur in kühnsten Gedankengängen erwartet, liegt beim Queren des Strandübergangs eine Nordsee vor mir, die ich so noch niemals sah: In der erst zögerlich vorangeschrittenen Dämmerung mutet sie in ihrem bleiernen Glanz, nahezu bar jeglicher Bewegung, wie eine vom Flutsaum bis zum Horizont aufgespannte Folie an, in der sich die undifferenzierte Grauheit des Himmels in kalten, dunkleren Tönen widerspiegelt. Das Wort „außerplanetarisch“ spreche ich mir im selben Moment laut zu, wie um mich der Echtheit dieser Situation zu vergewissern.
Und auf dieser gespannten Folie hocken – nein schwimmen wohl – fast fünfzig Möwen dicht beieinander, direkt an DER Stelle, die ich bei meinen morgendlichen Badegängen bevorzuge.
Als ich die Wasserkante erreiche und mich auskleide, erkenne ich, dass die überwiegend jungen Silbermöwen sich in einer Art Unrast auf der Stelle bewegen, mit ihren Schnäbeln immer wieder in die Luft pickend. Und während ich langsam und vooorsichtigst ins tiefere Wasser gleite, erkenne ich auch den Grund für dieses Verhalten: Unter der Wasseroberfläche, auch um mich herum, wimmelt es von kleinen, silbernen Fischchen – es mögen hunderttausende sein. Sandspierlinge? Und immer wieder springen allerorten einzelne Exemplare aus dem Wasser heraus, und plumpsen unbeholfen zurück, denn die Jungmöwen üben noch…
… und während sie anfangs noch vor mir zurückweichen, lassen sie sich von meiner Anwesenheit – also meinem Kopf, der sich nun auf Augenhöhe mit ihnen befindet, gar nicht mehr irritieren.
So befinde ich mich, kaum eine Minute später, direkt unter ihnen. Einige schwimmen keine Armlänge von mir entfernt, und ich beobachte aus wirklich allernächster Nähe die Fischfang-lernenden Jungvögel inmitten dieser paradiesischen Meeresstimmung.
*Hach* – Wildtiere, die nicht in sofortiger Panik vor uns Menschen flüchten, sind selten geworden, aus guten Gründen. Mitte der 1990er Jahre, auf den Galapagosinseln, erlebte ich Seelöwen, die im freien Meer mit mir spielen wollten, und mir unter Wasser aus Zentimeterentfernungen Luftblasen vor die Taucherbrille bliesen. Und urtümliche Leguane meiner Größe, die quer über dem Weg lagen, und keinerlei Anzeichen machten, mich durchzulassen… so stelle ich mir das Paradies vor, ehrlich.
Und sollte ich dereinst in diesem landen, kann ich das Foto inmitten der fischfangenden Möwen immer noch machen.