7. August: Ein Besuch in BONDO

Die Wetterlage erscheint heute noch deutlich labiler als gestern, also aktiviere ich mein schon seit Wochen ausklabüstertes „Ersatzprogramm“ und nehme das 8:36er Postauto hinunter ins BERGELL, das Schatten-Tal der Schweiz. Kurz vor CASTASEGNA, dem Grenzort zu Italien, entsteige ich dem Bus in PROMONTOGNO direkt vor dem berühmten HOTEL BREGAGLIA, das noch aus den Anfangsjahren des Schweizer Sommertourismus‘ im 19. Jahrhundert stammt:

Mit dem Aussteigen aus dem Bus ist der recht kühle Silser Morgen wie weggeblasen. Immerhin sind wir in nicht einmal 40 Minuten auf Haarnadelkurven nicht weniger als Eintausend Meter hinabgeorgelt in dieses bereits zum italienischen Sprachraum gehörende Tal, auf dessen Grund sich zwar wintertags tatsächlich kein Sonnenstrahl verirrt, das den Reisenden im Sommer jedoch mit mediterranen Temperaturen, subtropischer Pflanzenpracht und entsprechend wundersamen Düften, eifrigem Vogelgezwitscher, uuund sogar vielstimmigem Hühnergegacker wärmstens zu begrüßen vermag.

Unter der Brücke am Ortseingang fließt die MAIRA hindurch… die aufmerksamen Bloglesern schon gestern ein Begriff geworden ist, als wir den Wassertropfen auf der Wasserscheide folgten. Sie mündet nach fünfzig Kilometern in den Comer See und wird an dessen südlichem Ausfluß zur ADDA, die bereits als Nebenfluss von Norditaliens größtem Fluss, dem PO, firmiert.

*Hach*, Geografie ist doch etwas Herrliches. Aber manchmal sind geografische Prozesse auch gnadenlos. So geschehen vor nunmehr fast sieben Jahren, genau am 23. August 2017 um 9:30 Uhr, als PROMONTOGNOS kleiner Nachbarort BONDO die Apokalypse erlebte, nämlich einen der verheerendsten Bergstürze der Schweizer Geschichte. Um zu verstehen, was hier passierte, werfen wir einen Blick auf die schroffen Felsgrate, die sich bis auf 3.300 Meter um den PIZ CENGALO herum über den 200 Seelen-Ort BONDO erheben:

Von dessen Nordflanke (rechts oben) bricht ein sogenannter Felssturz von drei Millionen Kubikmetern(!) Gestein ab und stürzt mit einer Geschwindigkeit von 250 Stundenkilometern in den oberhalb der Bildmitte sichtbaren Gletscher. Dadurch wurde aus dem „trockenen“ Bergsturz durch die Durchmischung mit geschmolzenem Eis ein sogenannter Murgang, der sich nun als breiige Masse durch das enge Bondasca-Tal auf Bondo herunterquält. Trotz bereits Wochen vorher beobachteten kleineren Felsstürzen hatte niemand mit einem derartigen „Großereignis“ gerechnet, das insgesamt nur wenige Minuten in Anspruch nimmt.

Fast einhundert Häuser werden teilweise oder völlig zerstört, aber aufgrund der Wachsamkeit eines Forstbeamten, der die gefährdetsten Anwohner mit lautstarkem Hupen warnt, gibt es unter der einheimischen Bevölkerung keine Toten zu beklagen. Allerdings kommen acht ausländische Wanderer um, deren Leichname zumindest bis 2023 nicht gefunden wurden.

Nähert man sich dem Ort Bondo heute von Promontogno aus, erkennt man, wofür über 50 Millionen Franken an Hilfsgeldern vornehmlich ausgegeben wurden – und werden: Hohe Steinmauern manteln den aus den Bergen steil herabstürzenden Bach ein, dessen Flussbett vertieft wurde:

… und von einer aus Spendengeldern finanzierten Hängebrücke…:

… blickt der Wanderer direkt in den schmalen „Höllenschlund“, aus dem die Mure den Ort wie ein Lava-Fluss überschwemmte, bis zu 35 Meter(!) hoch:

Zum Abschluss noch ein Blick von der Maira aus auf den Ort, mit der neuen, höhergelegten Hauptstraße:

Mein Plan im Anschluss ist eigentlich, der VIA BREGAGLIA talabwärts bis zur Grenze zu folgen, aber die von Westen aufziehende Gewitterfront ist schneller. So hüpfe ich in das gerade startende Postauto hoch nach SOGLIO, ein pittoresk auf einer Terrasse über dem Tal liegendes Dorf, das zu den schönsten und schönst gelegenen Dörfern der Schweiz gehört. Kaum habe ich allerdings das Zentrum vor dem Hotel Palazzo Salis erreicht, …:


… öffnen sich die Himmelsschleusen, und ich kann gerade noch in ein antikes Waschhaus hechten…:

… wo ich mir ein Mittagsmahl  aus den Resten der letzten Tage schmecken lasse. Köstlich, sag‘ ich:

Und da das Gewitter nicht enden will…:

.. geht es im Anschluss per Postauto zurück, also hinauf nach Sils ins Oberengadin.

 

Kommentare (4)

  1. Jobst Thomas

    Hans, sehr eindrucksvoll. Künstlerisch wie textlich. Du kannst es eben.

    Grüße von der Insel

    Jobst

    • Hans Jessel

      Zur Info für die Blogleser: Jobst Thomas ist Autor und Regisseur einer gaaanz tollen NDR-Doku („Der Inselfotograf“) über meine fotografische Arbeit auf Sylt. Dieser Film wurde über die Jahre -zig mal gesendet, weil die Resonanzen so positiv waren…

  2. Spannend, vielen Dank. Neben Ihren grandiosen Fotos mag ich auch Ihre Texte sehr gern.

    Seit ich vor einigen Wochen auf Ihren Blog aufmerksam wurde, habe ich mich rückwärts bis zum Anfang durchgelesen, ohne mich zu langweilen.

    Es freut mich, dass Sie immer noch Spaß am Teilen haben, bitte gerne weiter so.

    • Hans Jessel

      Bis zum Anfang? Ich weiß gar nicht mehr, wann das war… auf jeden Fall mache ich weiter, versprochen!

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