8. August: „JWD“ – sagt der Berliner…,

… was, in der Übertragung unter uns Alpinisten, bedeutet: Janz weit droben.

Heute stand die längste Wanderung auf dem Programm, so ca. 15 km. Außerdem erreichte ich die größte Höhe, nämlich 3.309 Meter über NN (zugegebenermaßen mit einer Bergbahn, ähäm…), und drittens legte ich in einer fast vierstündigen Abwärtswanderung über tausend Höhenmeter zurück. Das erlebt man als bekennender Flachländer auch nicht alle Tage. Und meine Gebeine fühlen sich auch dementsprechend gewöhnungsbedürftig an am heutigen Abend. Werde mal kalt duschen, vielleicht hilft das!? We will see!

Die Bergstation des Piz Corvatsch ist die allerhöchste, zumindest im Kanton Graubünden. Wegen des Lichtes trete ich früh an, außerdem sind die Bergbahnen dann noch nicht so voll. Mit mir in der Gondel eine Handvoll Schweizer der Generation 70+, die liebe ich ja, weil die wirklich Ahnung haben von der Materie:

Ich stelle mich in der Regel – eher devot – als ahnungsloser Flachländer vor, zudem noch als Deutscher. Dabei halte ich mich zurück, denn Schweizer hassen deutsche Besserwisser, ich auch übrigens. Erkenne ich Interesse an einem Gespräch, stelle ich dann eine Frage, die auf wirklich fundamentale Ahnungslosigkeit schließen läßt, zum Beispiel: „Ist das da hinten der Mont Blanc?“ Die Schweizer dieser Generation wissen noch, wie Höflichkeit funktioniert, sie zucken nicht mal zusammen bei soviel auf einem Tablett vor sich hergetragener Dummheit. Und auch wenn sie ihr Leben lang auf dem Großteil tausender dieser Berge bis zum Ende aller von hier aus sichtbaren Horizonte persönlich herumgekraxelt sind, führen sie – wie an diesem frühen Morgen geschehen – den „Tüütschen“ zu einem fest installierten Fernrohr, das tatsächlich jede dieser Unmengen von Bergspitzen benennt. Bis zur Unendlichkeit, heute gar nicht sichtbar. Und das sogar ohne den vorherigen Einwurf von fünf Fränklis.

Mittlerweile hat sich die kleine Älpler-Seniorengruppe um „mein“ Fernglas herumgruppiert. Und während ich die Bergkuppen auswendig lerne, wird um mich herum mörderisch gefachsimpelt in einer Sprache, die ganz einfach zum Piepen ist, und aus -zig Idiomen zu bestehen scheint, an denen jeder Schweizer sein Gegenüber sofort verorten kann, im befriedigendsten Fall aufs Tal genau.

Dies ist der beste Moment, kurz anzumerken, daß ich von SYLT komme. Groooooße Augen um mich herum. Immerhin habe ich noch keinen Schweizer erlebt, der Sylt vom Namen her NICHT kennt, bzw. zugäben würde, die Insel nicht zu kennen. So stehen wir nun also hier in gut 3.300 Metern auf einer Bergspitze, und ich zeige so etwa nach Norden, da wo Sylt liegt. Kann man natürlich – leider – nicht sehen, wegen… genau: Der BERGE eben. Nun kommt MEIN Einsatz: Der dortige Blick vom Strand in die Unendlichkeit, über die Ewigkeit hinweg – am MEEEEEEER! Fast erhalte ich Applaus, denn wir sind alle der Ewigkeit recht nahe, die wir hier stehen. Und wir wissen das, und spüren es gerade.

Als ich über das Geländer mal nach unten schaue, wird mir erläutert, daß das die FUORCLA SURLEJ sei. Gut zu erkennen der Zickzack-Weg von links unten herauf bis zur Berghütte, dann geht’s bergab, gut 800 Höhenmeter in VAL ROSEG. Da will ich hin. Warum? Das erzähle ich jetzt:

 

Auf der Fuorcla. Vor mir locker 230 Jahre geballte Bergerfahrung. Die Dame links ist 86 Jahre alt und läuft die lange Strecke, bis Pontresina, wie ich:

Beim Abstieg ins Roseg-Tal tut sich ein überwältigender Blick auf: Die monströsen Seitenmoränen des Tschierva-Gletschers (Mitte links) schieben sich bis zur gegenüberliegenden Talseite hinüber. Rechts dahinter ein Gletschersee, dessen Abfluss sich durch die Moräne gekämpft hat, dann im Geröll verschwindet und unten links an zwei Stellen wieder zutage tritt:

Am 14. April dieses Jahres gab es hier einen Bergsturz am Piz Scerscen (rechts von dem dreifingrigen Gletscher), der dem Volumen nach dem von Bondo gleichkam. Da er jedoch um 7 Uhr morgens bei ziemlich miesem Wetter stattfand, dazu innerhalb der Seitenmöranen blieb, kam kein Mensch zuschaden. Jedoch wurde die Landschaft innerhalb der beiden Moränenzüge um diverse Meter erhöht. Schön ist auf dem oberen Foto zu sehen, dass die Geröllzunge erst nach fünf Kilometern zum Stillstand kam. Gerne wäre ich näher rangegangen, aber es ist noch alles gesperrt. Deshalb noch eine Teleaufnahme, die den neuen, wellenförmigen Schutt des Bergsturzes gut zeigt:

Ein paar Kilometer talabwärts ist der Schmelzwasserfluß bereits zu einem Strom geworden. Eigentlich ist das gesamte Schotterfeld weiterhin Gefahrengebiet (incl. Betretungsverbot), denn das Schmelzwasser könnte sich unter dem Schutt des Bergsturzes stauen und explosionsartig ausbrechen, was eine Flutwelle zur Folge hätte. Aber was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, würde ich zu den dort buddelnden Kindern mal sagen:

Ab hier kehre ich in die Zivilisation zurück….:

… und bleibe, kurz vor Pontresina, staunend stehen vor einem ganzen Wald voller Steinmännchen. Erst vor wenigen Tagen las ich in der Sylter Presse einen Jubelbericht über die überproportionalen Zunahmen an Schweizer Gästen während der letzten Jahre. Gleichzeitig erwuchs auf der Insel eine ebenfalls überproportionale, bislang unbekannte Steinmännchen-Problematik, zum Beispiel auf dem Roten Kliff. Vorm Morsum Kliff wird mittlerweile auf Schildern darauf hingewiesen, doch bitte auf das Bauen von Steinmännchen zu verzichten. Sonst sieht das auf Sylt bald aus wie hier:

Ich werde dieses Foto, sozusagen als Sylter Zukunftsvision, mal an die Sylter Tagespresse weiterleiten. Hihi, bis mooorgen!

 

 

Kommentare (2)

  1. Lovegoodfotos

    Tolles Foto! Sieht aus wie in einem Comic irgendwie. Ich kenne die Gegend Sils Maria und bin angetan von der ganzen Unternehmung!

    • Hans Jessel

      Die spezielle Stimmung in dem Bild kam dadurch, dass sich einige dünne Schleier vor die Sonne geschoben hatten. Dadurch wurden die Kontraste deutlich gemildert. Naja, und dann der Mountainbiker… putzige Situation eben.

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