Auf meinen Streifzügen über die Insel begegne ich Menschen. Verabredet oder zufällig. Ich frage nach dem Woher und Wohin, mache Fotos. Diese Begegnungen werden in loser Folge den Blog bereichern.
Heute treffe ich Lars Wiggert am Brandenburger Strand bei ultimativem Nordseewetter. Nordwestwind und Sonne pur, jetzt um die Mittagszeit möchte sie schon wärmen. Donnernde Brandung, Salz auf den Lippen sofort, schwangere Aerosolwolken ziehen landeinwärts. Ein Tag zum Durchatmen, und zwar gaaanz tief. Die Temperaturen bei 5-6 Grad, gefühlt sowieso schon mehr, erste Spaziergänger laufen barfuss am Flutsaum.
Lars ist mir immer als bedächtiger und reflektierter Mensch erschienen. Fürs Foto ist es mir allerdings wichtig, ihn aus der Reserve zu locken – und das gelingt bei einem Inselkind wie ihm am besten mit dem in unserer Kindheit so viel gespielten Spiel vor den heran laufenden Wellen, denen es rechtzeitig zu entfliehen galt, nein gilt… und es endet(e) stets mit nassen Füßen. So wie heute:
Wenn wir uns treffen – und das kommt in letzter Zeit häufiger vor – sprechen wir viel über unsere Kindheit. Über das Glück, auf Sylt aufgewachsen zu sein. Über die überaus starken Impulse, die daraus für unseren Lebensweg erwuchsen. Und uns verbindet vieles: Wie ich auch, schloss Lars zunächst ein Studium ab. Ihn begeisterte die Volkswirtschaftslehre, bis er erkennen musste, dass sein Denken letztlich weniger kompatibel schien mit der geforderten linearen Ausrichtung eines Geldzählers, dafür umso mehr mit dem entgrenzten Geist des Künstlers. Mir selber ist diese Erkenntnis, und viel mehr waren es noch die daraus erwachsenden Konsequenzen, als schwierigste Phase meines Lebens erinnerlich.
Lars’ Vater erzählte dem kleinen Jungen von einem geheimnisvollen Land namens England, das angeblich hinter dem gekrümmten westlichen Horizont der Insel verborgen lag. Und ich erinnere mich, während er davon erzählt, wie ich von diesem Land träumte, wie ich noch als Heranwachsender die höchsten Dünen erklomm in der Hoffnung, bei klarster Sicht einen Hauch von Blick darauf zu erhaschen. Wie wohl noch viele Sylter Kinder mehr.
Lars, Jahrgang 1966, entschied sich in den späten 1990er Jahren für den Lebensweg des Kunstmalers. Die Ergebnisse könnt Ihr sehen: Noch bis zum 3. April hängen seine Bilder in der Westerländer Nospa-Filiale.
Heute lebt Lars in Hamburg, im Schanzenviertel, wiederum in einer auch meiner Lieblingsecken in der schmucken Hansestadt. Mehr Kontrast zu Sylt geht kaum. Ich sehe uns beide als Antipoden: Ich fahre öfter nach Hamburg, so zwei- bis dreimal im Monat, denn nur so kann ich mich lösen von meiner Produktionswut hier auf Sylt, die jeweils erst in dem Moment von mir fällt, wenn ich im Zug den Hindenburgdamm passiere. Lars besucht die Insel in ähnlichem Rhythmus, um neue Inspirationen aufzusaugen, wie heute beispielsweise. Die dann in seinem Atelier über den Dächern der Schanze zu Sylter Farben und Strukturen mutieren. Ich beneide ihn um den Abstand, den ich mir bei der Arbeit nicht erlauben kann.
Und was machen wir beide am heutigen Tage? Lars wandert am Nachmittag von Puan Klent nach Hörnum, natürlich am Watt entlang, dort, wo er als Junge den Hornhechten nachstellte. Bis tief in den Abend hinein ist er unterwegs. Ich dagegen laufe, als williger Antipode, von der Blidselbucht nach Kampen, natürlich am Weststrand entlang. Dort, wo ich als Junge mit meiner Angel die Schollen aus der Brandung zog. Bis die Dämmerung zur Nacht wurde, nein wird.
Lars Wiggert – kein Siver Surfer, sondern ein Silver Dancer…immer wieder neue Facetten dieses einmaligen Zeitgenossen.
Das heutige Leben, die Zeit schreit nach Entschleunigung – er weiß diese zu malen…
Viele Grüße aus Nordhessen vom Hamburger im Exil