Es qualmt aus den offenen Fenstern der Backstube, und der anheimelnde Duft von frischgebackenen Gemeinheiten schwimmt im satten Morgentau der gesamten Rue du Palais de Justice, über die ich , von der Saône-Passarelle kommend, diesen Ort der Verführung erreiche.
Um 7:15 Uhr ist es noch dunkel in der Mitte des Lyoner Novembers, lediglich beim Überqueren des Flusses erahnt der frühmorgendliche Flaneur erste Anzeichen einer Dämmerung über den am Ufer aufgereihten Fassaden der längst vertraut gewordenen Stadt.
Wie jeden Morgen um diese Uhrzeit, stehen die meisten Stühle bereits vor meinem bevorzugten Café Lion (haha, schön ausgedacht, der Name, nä?), während der Maître du Café bei geöffneter Tür in den überschaubaren Räumlichkeiten mit zusammengeklappten Tischen und einem auf Krawall gebürsteten Staubsauger kämpft, der äußerst ungesunde, asthmatisch hüstelnde Laute von sich gibt. Gehört wie gefühlt: das Endstadium. Etwa so, als sei dieser unlängst in der Saône kielgeholt worden nämlich. Nur: Wer sollte so etwas tun!?
Leider reicht mein kümmerlicher französischer Wortschatz nicht, um diese bösen Ahnungen mit dem etwas schwitzig dreinschauenden Wirt zu erörtern, außerdem gesellen sich bereits die ersten Klienten an den noch von den Spuren der Nacht gezeichneten Tresen und verlangen rasche Bedienung. Ebenfalls wie jeden Morgen:
In fremdländischer Umgebung stimmen vorausschaubare Situationen den Reisenden fröhlich, was allerdings nicht gilt für den Markt – der sich heute nicht in meine morgendlichen Rituale einzureihen gedenkt. Nur am traurigen Montag nämlich zeigt sich dieser geschlossen, nein, schlimmer noch, ganz einfach nicht existent. Was für ein Kummer allein: Der Hähnchenbräter und seine fettspritzende Dunstglocke direkt am Zuweg zur Passarelle – vorm Frühstück serviert – , diese olfaktorische Guillotine wird mir fehlen in der frischen Nordseeluft der friesischen Heimat.
Entschuldigt, Kinder, ich bin anscheinden abgeschweift. Glauben wir der Überschrift des heutigen Beitrags, stehen wir längst vor den geöffneten Fenstern der Backstube meiner Lyoner Lieblings-Boulangerie und inhalieren begierig weitaus freundlichere Düfte als diejenigen einer schnöden Geflügelbräterei. Deshalb bewegen wir uns nun rechts um die Ecke zum nahen Eingang dieses kulinarischen Paradieses und rütteln an der etwas verzogenen Tür aus Renaissance-Zeiten, bis diese eeendlich nachgibt…
Nunmehr vollends ummantelt von der süßlichen Aromenflut frischen Backguts, mit augenblicklich sich beschlagenden Brillengläsern aufgrund der uns entgegenflammenden Temperaturen äquatorialer Herkunft, stehen wir in einem überraschend überschaubaren, nein winzigen Verkaufsraum, dessen Tresen als immerhin wichtigstes Mobiliar eines solchen, nicht mehr in seiner ursprünglich erdachten Funktion erkennbar ist. Vielmehr präsentiert sich dieser, überkopfhoch vollgestapelt mit frischest aus dem Ofen herbeigeschafften Brioches, Croissants, Tartes, Roulettes, Chouquettes, Alumettes, Croquants, Bichons, und natürlich baseballgroßen Pognes, als eine animisch duftende Wand von 146.000 Kilokalorien, überschlagsweise, wobei ich noch immer nichts sehe, aus obengenannten Gründen.
Nicht ohne Verve salutiere ich ein „Bonjour!“ in den Morgennebel… auf ein Echo warte ich vergebens. Was kein Wunder ist, zeigt sich der Rest des vom Grundriss kleinen, aber dafür umso höheren Raumes vollgerammelt mit überquellenden Regalen und Ablagen, vor denen wiederum die verkeilten Rollwagen der aus dem angrenzenden Backraum angelieferten Waren jegliches Vorankommen, selbst von Tönen, unmöglich machen.
Wie vorteilhaft, daß ich als anerkannter Jäger des Lichts das Warten gewohnt bin. Da mache ich auch gerade heute früh keine Ausnahme, und rufe nochmals ein fröhliches Halali: „BONJOUR!?“ Da scheppert es, ganz unerwarteterweise, halbrechts neben mir…
… und aus dem Bodennebel entsteigt eine junge Frau in der definitiv prallen Blüte ihrer Jahre und von derart französischer Machart, beim Aufstehen mit schwerbeladenem Geblech fröhlich Entschuldigungen palavernd und, zumal ich augenblicklich zu einer Salzsäule Erstarrter ihr auch für den Blööödesten erkennbar total im Wege stehe, mich dabei sanft beiseite drückend, so daß ich in einer Art Sekunden-Demenz vergesse, was „ein Baguette, bitte“ auf französisch heißt. Normalerweise meine leichteste Übung, möchte ich bemerken.
Na wunderbar, die Sprache verloren. Auch das noch. Mittlerweile hat sich dieses blondbezopfte Geschöpf des Himmels den Weg zum „Tresen“ gebahnt, und müht sich, in Ermangelung einer Ablage (… und einer helfenden Hand), weitere Brioches etc. pp. in die ohnehin schon übervolle Ablage zu quetschen, und dabei die Balance des Blechs nicht aus den Augen zu verlieren, weiterhin fröhlich mit mir parlierend…
… bis sie registriert, daß ich, für jeden Anwesenden offensichtlich, ein bewegungs- und sprachunkundiger Alien bin, der Hilfe jeglicher Art benötigt, um sich zumindest zu artikulieren.
Augenblicklich stoppt sie jegliche Arbeit, schaut mich mit üüübergroooßen Augen laaange an und wechselt zu einem erderweichenden Lächeln, das mir den Boden unter den Füßen endgültig entzieht.
Nein, ich stürze nicht in mich zusammen, ich versuche es mit Esperanto. Leider ist mir mittlerweile auch noch entfallen, was ich an diesem Ort der sinnlichen Verführung überhaupt wollte. Ich trug einem geheimen Einkaufszettel in meinem Gehirn, mit diversen konkreten Wünschen, sowohl für die Reise als auch für zuhause. Nix mehr da.
Als ich das Geschäft – schweißüberströmt – Minuten später verlasse, trage ich drei Einkäufe bei mir. Erstens dieses:
Zweitens dieses:
… und ein Baguette (ohne Foto)
Und genau das esse ich gerade, kurz nach der Grenzquerung zwischen Strasbourg und Baden-Baden, mit einem Tomme de Savoie, und dazu gibt’s ein gekühltes Gläschen Muscadet. Ein „Prost!“ in die Runde!