Die Szene meiner Reise, die mir am meisten erinnerlich ist?
In Marseille hatte ich meinen frühen Spaziergang zum Vieux Port fast beendet. Mittlerweile stand die Sonne höher und ich suchte nach einem Café mit Sonnenterrasse, um gleich an diesem ersten Tag meiner Reise die Wärme des Südens zu inhalieren. Dieses fand sich just gegenüber der gewaltigen Außentreppe des Bahnhofs St. Charles. Ich setzte mich und bestellte einen Café au Lait und ein Pain au chocolat. Zwischen mir und der Bahnhofstreppe eine zweispurige Durchgangsstraße, brüllender Verkehr, natürlich.
Und dann sehe ich sie wieder, die alte, gebeugte Dame mit dem zerzottelten Haar, den übergroßen Cowboystiefeln, der viel zu dicken, plüschigen Winterjacke und dem voluminösen Reisegepäck. Drei abgearbeitete Koffer, aufwändig verschnürt, geschätztes Gewicht je 20-25 Kilo, dazu zwei mottenlöchrige, zerschabte Reisetaschen, in denen sich schwerer Hausrat zu befinden scheint. Und, in der linken Hand, ein zerknittertes Din A4 – Blatt Papier mit offenbar wichtigen Notizen drauf.
Sie kommt von rechts aus einer schattigen Altstadtgasse, zieht unter sichtbaren Mühen einen der Koffer bis zum Bordstein der furchteinflößenden Straße, blickt auf ihren Spickzettel, fragt einen in unmittelbarer Nähe vorbeihastenden Passanten etwas – bekommt jedoch keine Antwort.
Dann schlurft sie zurück in die dunkle Gasse, erscheint bald darauf mit einer der Reisetaschen, die sie, rückwärts stolpernd, unter Qualen bis zum Bordstein befördert. Mehrmals hält sie inne, blickt auf ihren Zettel, schlägt das über ihr Gesicht herunterfallende Zottelhaar mit der freien Hand zurück auf ihren Rücken, stellt einem dicht vorbeihuschenden Passanten eine Frage, bekommt keine Antwort, geht zurück in die Gasse…
Ich blicke in die Runde. Hier sitzen um diese Uhrzeit keine Touristen, sondern Einheimische, Menschen aus dem Bahnhofsquartier. Arbeitende Bevölkerung, Frühstückspause, Käffchen. Sie kennen die agile Rentnerin, und lassen sie gewähren. Schreiten nicht ein, warten – wie ich – auf das zu erwartende Finale.
Es ist eine knappe halbe Stunde des Schuftens vergangen, bis endlich sämtliche Reiseeffekten am Bordstein versammelt sind. Deren Besitzerin dreht sich um, stützt ihre Fäuste in die Hüften. Gestikuliert, fuchtelt herum, sucht Hilfe. Viele Blicke, keine Reaktion der Zuschauer.
Nun rückt die imaginierte Abfahrt ihres Zuges näher, und es gibt kein Zurück mehr. Als der in beiden Richtungen vorbeibrandende Verkehr nur für einen Moment zu schwächeln scheint, eine sekundenlange Pause in diesem ewigen Fluss, betritt sie rücklings den mörderischen Asphalt, eine der Taschen mit beiden Händen auf die Straße wuchtend. Nur noch ein Auto schafft es, mit gewagtem Manöver an ihr vorbeizuschneiden, dann versiegt der Verkehr auf den vorderen Fahrspuren.
Keiner hupt.
Davon unberührt, zerrt sie nun die Tasche bis zum Mittelstreifen. Ein Vorgang, der sich noch viermal wiederholen soll, danach ebenso bei den hinteren Spuren.
Als sie ihre gesamte Habe vor die gewaltige Außentreppe verfrachtet hat, muss ich die Szenerie verlassen. Der Hotel-Checkout steht an, und der Bus nach Antibes wird auch nicht auf mich warten wollen.
Aber ich weiß auch so, wie es weitergeht, und zwar jeden Tag: Als ich gestern Abend gegen 22 Uhr den Bahnhof verließ, hatte sie gerade den Eingangsbereich der Bahnhofshalle erreicht. Meine Ausgangstür. Und stellte diesem zufällig vorbeihastenden Reisenden eine Frage…