Jahreswende 2022/23: Ein Landschafts-Gedicht

In Vorbereitung auf meine näherrückende „Winterreise“ in eine Landschaft, die in vielerlei Hinsicht als das Gegenteil Sylts gesehen werden kann, beschäftige ich mich seit Wochen mit dem Thema „Wahrnehmung von großartiger Landschaft“: Was macht eine Landschaft im Auge des Betrachters „großartig/einzigartig/andersartig“ – und was richtet sie in der Gefühlswelt des Betrachters an?

Ehrlich gesagt, den richtigen Ansatz zu einer mich befriedigenden Gedankenabfolge hatte ich bis heute noch nicht gefunden, wollte dieser aber vor Ort nachspüren, sobald ich diese ab 9. Januar besuche.

Nun stoße ich auf den Auszug eines Schriftstücks von keinem Geringeren als Hermann Hesse (1877-1962), der ebendiese Landschaft bereits vor über einhundert Jahren „betrat“ – im wahrsten Sinne des Wortes, auf einer Wanderung – und Zeilen hinterließ, die jedem „Landschaftsversteher“ einfach nur wie Butter durch die Windungen des Gehirns fließen dürften.

Um die Sache spannend zu halten, stelle ich Hesse‘s Ausführungen ein Sylt-Foto als heutigen Titel voran, mit Verlaub.

(…) “Denn das Hin und Her des Empfindens zwischen zeitloser Urwelt und den klein geteilten Zeitstrecken des eigenen Lebens ließ mir alles Menschliche, alles Erlebte und Erlebbare vergänglich und gewichtlos erscheinen… Stets scheint ja das Dauernde auf das Vergängliche mit einer Überlegenheit zu blicken, die zwischen Spott und Duldung schwebt, und so finde ich mich vom Geist dieser feucht-kühlen Weite geprüft und gemustert, geduldet und ein wenig bespöttelt, ohne daß ich mich gedemütigt fühle. Es ist jede neue Begegnung mit der Erde und der Natur von ähnlicher Art, wenigstens für unsereinen, für uns Künstler: Unser Herz kommt dem Elementaren und scheinbar Ewigen willig und voll Liebe entgegen, schlägt mit dem Takt des Wellengangs, atmet mit dem Winde, fliegt mit den Wolken und Vögeln, fühlt Liebe und Dankbarkeit für die Schönheit der Lichter, Farben und Töne, weiß sich zu ihnen gehörig, ihnen verwandt, und bekommt doch niemals von der ewigen Erde, dem ewigen Himmel eine andere Antwort als eben jenen gelassenen halbspöttischen Blick des Großen für das Kleine, des Alten für das Kind, des Dauernden für das Vergängliche. Bis wir, sei es in Trotz oder Demut, in Stolz oder Verzweiflung, dem Stummen die Sprache, dem Ewigen das Zeitliche und Sterbliche entgegenstemmen und aus dem Gefühl der Kleinheit und Vergänglichkeit das ebenso stolze wie verzweifelte Gefühl des Menschen wird, des abtrünnigsten, aber liebefähigsten, des jüngsten aber wachsten, des verlorensten aber leidensfähigsten Sohnes der Erde. Und siehe, unsere Ohnmacht ist gebrochen, wir sind weder klein noch trotzig mehr, wir begehren nicht mehr das Einswerden mit der Natur, sondern stellen ihrer Größe die unsre entgegen, ihrer Dauer unsere Wandelbarkeit, ihrer Stummheit unsere Sprache, ihrer scheinbaren Ewigkeit unser Wissen vom Tode, ihrer Gleichgültigkeit unser der Liebe und des Leidens fähiges Herz.“

Das, so nehme ich es mir gerade vor, wird jetzt auswendig gelernt – und stets zitiert, sobald ich einer großartigen Landschaft gegenüberstehe. Egal, ob vor oder nach dem dazu stimmenden Foto.

 

 

 

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