… Nietzsche (1845 – 1900):
Unmittelbar neben meinem Hotel findet sich ein entzückendes kleines Häuschen, das für den Ort Sils eine große Bedeutung besitzt. Dessen Besuch steht am Ende meines Aufenthaltes, aus gutem Grund: Hier wohnte – bzw. arbeitete – in den 1880er Jahren kein Geringerer als der Philosoph Friedrich Nietzsche, uns allen bekannt wegen seines „Zarathustra‘s“, seines „Übermenschen“, und gelegentlich auch unangenehmen Sprüchen über die Damenwelt. Ein Freundeskreis hat das halb zerfallene Haus seit den 1960er Jahren unter seine Fittiche genommen, es mit beispiellosem Einsatz restauriert und zu einem Museum ausgebaut. Sogar ein Gästezimmer gibt es, in dem junge Nietzscheforscher wochenlang unbehelligt ihrer Arbeit nachgehen können.
Als Nietzsche Ende der 1870er Jahre, damals noch als Professor an der Universität Basel, erstmals ins Oberengadin kam und – auf Einladung – in St. Moritz residierte, und das dortige gesellschaftliche Treiben der Begüterten und Exaltierten mitbekam, genügte eine kleine Kutschenfahrt ins damals vom Tourismus noch unberührte Sils, um ihn von der Strahlkraft dieses Ortes, und insbesondere der Landschaft und des Klimas, zu überzeugen.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der höchstbegabte Friedrich eine beispiellose Karriere hingelegt, die in der Baseler Philologie-Professur gipfelte – im Alter von gerade einmal 25 Jahren. Zwar wurden seine bis dato veröffentlichten Bücher von der Kritik eher verrissen als goutiert, trotzdem wurde anerkannt, daß da ein besonderer Geist am Werke war.
Als er im Jahre 1881 erstmals einen seiner meist dreimonatigen Sommer-Arbeitsaufenthalte in Sils antrat, war Nietzsche ein gebrochener Mann: Sein katastrophaler Gesundheitszustand (eine besonders fiese Art von Migräne mit tagelangen Brechattacken etc. pp.) hatten ihn zur Aufgabe seiner Tätigkeit an der Universität gezwungen. Dadurch auch mittel- und heimatlos geworden, fand er seinen Traum-Arbeitsplatz im ersten Stock des Hauses:
Kein Scherz jetzt: Diese Kammer – mit direktem Waldblick – hatte er gemietet, nicht das Haus! Er ließ das ursprünglich helle Zimmer sogleich in braunen Farbtönen (im Original erhalten in der Wandaussparung links neben dem Fenster) übertapezieren, da er helles Tageslicht nicht vertrug…:
… und begann sogleich mit seinen täglichen Arbeitsritualen: Aufstehen im Morgengrauen, Frühstück mit lecker Eidotter und Kaffee, dann ein fünf- bis siebenstündiger „Spaziergang“ (solange ihn nicht eine erneute Migräne-Attacke ans Bett fesselte) um die Seen, gerne ins Fextal, nach Maloja – kennt Ihr jetzt ja längst alles, zur Gedankenfindung, zwischendurch der Mittagstisch im (sic!) HOTEL EDELWEISS, und abends dann der Knaller: Stets von 19 bus 21 Uhr still auf einem Stuhl sitzen und gar nichts machen, einfach nur in menschliche Haut gegossene Gedankenwelt sein.
Schonung gab’s nicht. Angetrieben von dem schon zu Studentenzeiten gehuldigten Vorsatz, das Leben dem Denken unterzuordnen, wurde unablässig produziert, nicht selten direkt für die Tonne:
Original im Silser Nietzsche Museum
Jeder, der schreibt, kennt die Qualen, wenn es darum geht, Gedanken auf „den Punkt“ zu bringen. Philosophische Texte dieser intellektuellen Tiefe zu verfassen, mit Fragestellungen, deren Sinn und Inhalt sich dem „Normaldenkenden“ ohnehin nur in engen Grenzen erschließt, grenzt an Selbstausbeutung:
„Europäischer Nihilismus“? „Ewige Wiederkunft des Gleichen“? Alles klar? Na, dann ist‘s ja gut… 😉
Und der „ mächtige, pyramidal aufgethürmte Block“? Den haben wir hier, etwas eingeschneit bei meinem ersten Spaziergang um den Silvaplaner See:
Zwei Jahre nach dem Erscheinen seines „Zarathustra“ schreibt Nietzsche: „Dieses Engadin ist die Geburtsstätte meines Zarathustra. Ich fand eben noch die erste Skizze der in ihm verbundenen Gedanken; darunter steht „Anfang August 1881 in Sils-Maria, 6000 Fuss über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen.“
Paul Raabe hat mit seinem Kulturwanderführer „Spaziergänge durch Nietzsches Sils Maria“ (Wallstein Verlag, Göttingen 2019, € 20,-) ein Lebenswerk vorgelegt, nach jahrzehntelangen Recherchen u. a. über Nietzsches Briefwechsel mit Freunden, Mutter, Schwester, Verlegern und Fans. Dieses Buch ist einer der schönsten „Reiseführer“, die ich je gelesen habe. In der Vorbereitung der Tour, als Nachschlagewerk vor Ort, oder – in Gedanken – am Cavlocsee.
Wie formuliert es Paul Raabe in seiner „Schlussbemerkung“?
“Sils Maria hat trotz aller Modernisierung, der sich der Ort nicht entziehen konnte, auf eine bewundernswert dezente Art die Erinnerung an die Einzigartigkeit eines Philosophen bewahrt, der wie kein anderer das geistige Leben eines ganzen Jahrhunderts nach ihm in der wechselvollen Auseinandersetzung mit seinem Werk geprägt hat und dessen Erbe wir uns bis heute immer wieder neu zu stellen haben. Zeugen dieser Bedeutung eines großen Mannes sind auch alle, die zu seiner Zeit und vor allem nach ihm in Sils Maria gelebt haben oder zu Gast gewesen sind: Nietzsches bekannte und unbekannte Zeitgenossen und die vielen Gäste – Schriftsteller, Gelehrte, Künstler und Musiker-, die auf seinen Spuren bewusst oder unbewusst, bewundernd, kritisch oder ablehnend gegangen sind. Spaziergänge in Nietzsches Sils Maria erschließen uns nicht nur eine unvergleichliche Landschaft, sondern auch eine geistige Welt, in der sich ein Jahrhundert wiederfindet.“
Am Montag, dem 16. Januar, besteige ich morgens um 8:35 Uhr in St. Moritz den Zug nach Landquart – bei minus 16 Grad. Nach Umstiegen dortselbst, in Basel und Hamburg erreiche ich Sylt am selben Tag um 23:37 Uhr – bei Sturm und Regen.
Lieber Hans,
jetzt bist du wieder an der stürmischen Nordsee, nachdem du uns in deinem Blog für eine kurze Zeit mit in die verschneite Schweizer Bergwelt genommen hast und von deinen ausgiebigen Touren
– wie gewohnt – mit beeindruckenden Fotos verwöhnt hast.
Hans, beim Lesen deines Blogs stelle ich mir immer wieder die Frage:
Wieviele Stunden hat dein Tag, denn diese interessanten und informativen Reiseberichte schreiben sich ja nicht von alleine ⁉️
Herzlichen Dank, bitte weiter so und
liebe Grüße aus Dü-dorf.
Moin Karin, ich freue mich einfach – als „Rentner“ soviel Zeit zu besitzen, und nicht nur immer fotografieren zu müssen, sondern auch ein wenig zu schreiben. Dazu gehört eine ordentliche Portion Muße, und DIESE zu erlangen, ist eher das Problem dabei.
Komme gerade von einem Strandspaziergang zurück. Die Luft ist einfach nur herrlich!
Mit Grüßen, Hans